Wissensarbeit wie am Fließband? Agile Methoden als Befähigung oder Belastung

Screenshot aus Modern Times

Das Thema Change Management beschäftigt mich schon länger: Viele Organisationen bemühen sich zur Zeit – nicht nur im IT-Bereich – Prozesse und Strukturen möglichst agil und lean zu gestalten. Dies geht allerdings nicht immer gut. Jede Veränderung eingespielter Abläufe kann auf Widerstand stoßen und Stress erzeugen, was die kurzfristigen Steigerung der Produktivität durch die Aussicht auf höhere Krankheits- und Abwanderungsquoten gefährdet. Diese Entwicklungen werden dann meist Fehlern bei der Umsetzung zugeschrieben oder einer ungünstigen Firmenkultur. Die – lesenswerte – Studie “Lean und agil im Büro” (PDF der Open Access-Ausgabe hier) von Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes und Thomas Lühr untersucht die “eingebauten” Schwierigkeiten bei agiler Transformation genauer, anhand mehrerer Fallstudien. Besonders die Beschreibung der veränderten Expertenrolle fand ich sehr anregend, daher zitiere ich hier etwas ausführlicher aus den Notizen.

Freiräume im Expertenmodus

Um besser zu verstehen, in welchem Spannungsfeld sich jede Veränderung beruflicher Rollen bewegt, ist ein Blick auf die Wirtschaftsgeschichte hilfreich. Während der Industrialisierung entstand ein wesentlicher Unterschied in der Arbeitsweise der Angestellten: Viele Tätigkeiten, die Menschen bisher in Handarbeit oder kleinen Cottage Industries ausführten, wurden ‘fließbandtauglich’ in einzelne, leicht ersetzbare Schritte zerlegt und dann von einfachen, vergleichsweise ungelernten Arbeitern und Hilfskräften ausgeführt. Diese Struktur der Arbeit in der Frühzeit der Industrialisierung wird sehr schön in Charly Chaplins Modern Times (ganzer Film hier) dargestellt; der Arbeiter verschwindet hier buchstäblich in der Maschine:

Durch die (tayloristische) Rationalisierung orientieren sich die einzelnen Arbeitsschritte an der Geschwindigkeit des Fließbandes, sie sind leicht nachvollziehbar und lassen sich mit wenig Aufwand kontrollieren. Die Angestellten sind gewissermaßen ein ‘mechanischer’ Teil der Fabrik und werden mit dieser Erwartung gesteuert.

Bei den höheren Angestellten gibt es dagegen einen deutlich erweiterten Spielraum bei der Gestaltung ihrer Tätigkeiten. Dies zeigt sich in ‘Modern Times’ am Beispiel des Fabrikleiters, der zu Beginn des Films in seinem Büro mit einem Puzzle und einer Zeitung mit ‘Tarzan’-Comic vorgestellt wird:

Screenshot aus Modern Times: Chef liest Zeitung
Screenshot aus Modern Times

Im Bereich der höheren Angestellten gibt es größere Freiräume bei der Gestaltung der Arbeit als beispielsweise in der Produktion. Dies ist mit einem höheren Status verbunden; die Tätigkeiten enthalten soviel Unvorhergesehens, dass sie sich in geringerem Maße vorstrukturieren und planen lassen. Dieser Unterschied wird später auch bei der Einführung von agilen Methoden wichtig, da sie sich auch auf diesen Freiraum beziehen:

Der Expertenmodus ist wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass die Kopfarbeiter über vergleichsweise große individuelle ‘Ungewissheitszonen’ […] und spezifische Freiheitsgrade in der Arbeit verfügen. Denn insofern die Tätigkeit der Kopfarbeiter ausgehend vom konkreten Individuum gedacht und organisiert wird, bleiben die einzelnen Abläufe für Außenstehende eine Art ‘Black Box’, sodass sie sich einer direkten Kontrolle durch das Management entziehen. Dementsprechend etablierte sich mit der ‘verantwortlichen Autonomie’ eine Alternative zum tayloristischen Kontrollverständnis

Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr: »Lean« und »agil« im Büro: Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Transcript 2018. S. 38. (PDF)

Öffnung der ‘Expertensilos’ als Bedrohung

Mit der Einführung von agilen Methoden scheint sich diese privilegierte Position nun zu ändern: Die einzelnen Arbeitsschritte sind dem ganzen Team transparent, auch der aktuelle Status der Bearbeitung ist für andere sichtbar.

Geistige Tätigkeiten werden im Informationsraum als digitalem ‘Raum der Produktion’ aneinander anschlussfähig gemacht […] Die Unternehmen versuchen nunmehr, den alten Expertenmodus als spezifische Organisationsform insbesondere hochqualifizierter Kopfarbeit aufzuheben oder zumindest einzuschränken, um die Arbeit der Angestellten austauschbar zu machen (ebd., S. 41)

Während Methoden wie Kanban vor allem auf die Transparenz und Integration der Aufgaben abzielen, zielen Formate wie Standup-Meetings oder Pair Programming darauf ab, den Zugang zu vormals exklusiven Wissensdomänen zu erweitern. Dies wird aus der Perspektive von Expertenkulturen, die ein gewisses Maß an Intrasparenz als Freiraum verstehen, nicht selten als Bedrohung erlebt:

Was aus der Perspektive der Jüngeren als Erleicherung in und Unterstützung bei der Arbeit sowie als Möglichkeit für kollektives Lernen im Team erscheint, kann jedoch von älteren Beschäftigten als regelrechter Angriff auf ihr ausgeprägtes Spezialistentum und somit auf ihr Selbstverständnis gewertet werden. Unsere Empirie zeigt, dass sie die Aufforderung, über lange Jahre aufgebaute Fachkenntnisse nun systematisch zu teilen, nicht selten als Entwertung und Mangel an Wertschätzung begreifen. (Ebd., S. 192)

Mit der neuen Transparenz werden die sogenannten “Expertensilos” geöffnet und die vormals exklusiven Formen der Wissensarbeit für einen größeren Kreis nachvollziehbar. An dieser Stelle kommt es nun auf die Kultur der Organisation und deren Ziele an: Geht es vor allem um eine (quantitative) Steigerung mit mehr Output in kürzerer Zeit, oder auch um Befähigung und eine neue Qualität der Zusammenarbeit? Dieser Gegensatz wird sehr schön in der folgenden Grafik zusammengefasst:

Bild: Agile Kultur vs Bürokratische Kultur
Bild: Agile Kultur vs Bürokratische Kultur, aus: Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr: »Lean« und »agil« im Büro: Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Transcript 2018. S. 196. PDF der Open Access-Ausgabe [CC-BY 4.0].

Grafik: Zwischen ‘potemkinschem’ Lean und empowertem Team. Ebd., S. 196 S.196

Wie aber lässt sich diese Erkenntnis förderlich in Veränderungsprozessen umsetzen? Für das Change-Management fand ich vor allem die folgenden Punkte spannend:

Der Sinn von Transparenz und die Vorteile einer kollektiven Arbeitsweise und kollektiven Wissensbasis müssen für alle Beteiligten erfahrbar werden.** Ohne entsprechende Kompensationen, wie Vertrauen, Sicherheit oder Unterstützung im Team, kann den hochqualifizierten Experten nicht einsichtig werden, warum sie ihre ‘Expertensilos’ aufgeben sollten**. Das Festhalten am individuellen Expertenmodus erscheint dann, wie unsere Fallstudien zeigen, als eine legitime Strategie für den Selbstschutz und die Verteidigung bisheriger Privilegien. (Ebd., S. 192f.)

Nachhaltige Befähigung statt “potemkinsches Lean”

Während die Einführung von agilen Methoden häufig durch das (legitime) Ziel der Produktivitätssteigerung motiviert ist, wird die Frage der Nachhaltigkeit oft vernachlässigt. Ohne eine ‘agile Kultur’, die durch Empowerment (‘Befähigung’), Vertrauen und Sicherheit geprägt ist, können sich die Vorteile neuer Formen der Zusammenarbeit nicht dauerhaft etablieren. Zur Effizienz gehören stets auch organisatorische Freiräume und vorausschauend eingerichtete Pufferzonen (“Slack”), mit denen Raum für Neues entsteht.

Wie aber lassen sich die Faktoren genauer beschreiben, unter denen agile Transformation am Besten gelingt? Einige Anregungen aus der Studie in Stichworten (S.197f.):

  • Beteiligung der Mitarbeiter im Rahmen der Einführung von Lean bzw der agilen Methoden: Gibt es ausreichend Freiraum für das Team, die neuen Methoden auszuprobieren und sie dann auch gemäß ihren Vorstellungen anzupassen?
  • Vertrauen und Sicherheit für eine aktive Lernhaltung und Entwicklungsschleifen: Können die Teams auf Selbstorganisation bauen und verzichten die Führungskräfte darauf, permanent von außen ‘hineinzuregieren’?
  • Selbstorganisation, bzw. “Empowerment als eine wirklich autonom agierende Organisationseinheit” (S. 198), ein weiter Gestaltungsspielraum auch bei hohem Workload, die Übernahme von Verantwortung im Team (ownership) und dazu günstige Bedingungen:
  • Product Owner und Führungsebene respektieren die Selbstorganisation des Teams und dessen Planung und Schätzung. Das Backlog bleibt unangetastet oder wird notfalls mit dem Team neu verhandelt
  • Kultivierung von ‘Slack’ (hier ist Freiraum gemeint, nicht die App): Den Teams wird zugestanden, “die Produktivität des neuen Entwicklungsmodells nicht bloß mit Blick auf die Erhöhung von waste und die Erhöhung der Qualität und Geschwindigkeit zu nutzen” (S.200)
  • Freiräume für Innovation und Kreativität entwickeln

Andreas Boes, Tobias Kämpf, Barbara Langes, Thomas Lühr: »Lean« und »agil« im Büro: Neue Organisationskonzepte in der digitalen Transformation und ihre Folgen für die Angestellten. Transcript 2018. Open Access-Ausgabe

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